Land: Deutschland
Thema: Kurzgeschichten

(von Stefan Fuhrmann)

  

Der Kapitän

  

Der Kapitän war alt und müde.

Langsam, ein Ächzen auf den Lippen, streckte er sein rechtes Bein etwas aus, um bequemer liegen zu können. Er lag schon lange so da. Zu lange, und das Bein schmerzte.

  

Eine Frau, ein kleines Mädchen an der Hand, kam vorüber, hielt kurz inne und kramte in ihrer Tasche. Verstohlen blickte die Kleine zu ihm herüber. Eine Geldmünze fiel vor seine Füße, die Frau zog die Kleine an der Hand, ein letzter Blick, dann waren die Beiden auch schon wieder zwischen den Passanten entschwunden.

  

Der Kapitän legte den Kopf ein wenig in den Nacken und ließ sich die wärmende Maiensonne aufs Gesicht scheinen. Wind fächelte sanft über sein Gesicht. Es war ein schöner Tag und er fühlte sich ganz wohl.

Seine Augen wanderten zwischen den Passanten hindurch, fanden die junge Frau, und ruhig blickte er ihr und dem Kind nach. Sie war jung und elegant gekleidet. Schlank und hübsch, eine nette Erscheinung, der man gerne hinterher sah. Das Kind schielte immer wieder über die Schulter zu ihm zurück. Der Kapitän zwinkerte mit einem Auge und lächelte ihm aufmunternd zu.

  

Einst hatte er auch eine junge und hübsche Frau gehabt.

Sie hatten sich geschworen immer zusammen zu bleiben. Für immer, hatte er zu ihr gesagt. Ich möchte bei dir bleiben, solange ich lebe, und solltest du vor mir sterben, wollte ich keinen Atemzug länger leben.

Die Ewigkeit hielt zwei Jahre, dann war es seine Hilde leid gewesen, auf ihn zu warten.

Während er auf seinem Schiff zur Insel fuhr, saß sie allein in der kleinen Mansardenwohnung und wartete auf ihn und darauf, dass die Zeiten besser wurden, und hoffte, dass sich ein sichereres Leben planen ließe und ein wenig Wohlstand einstellte. Es blieb beim Warten, und der Beteuerung: Warte, es wird alles so kommen, wie du es dir vorstellst. Ein kleines Haus, Blumen vor den Fenstern und wir beide … und…
Er versprach jedes Mal mit dem Reeder zu sprechen, um einen Posten an Land zu bekommen, mit festen Zeiten und etwas mehr Geld. Und dann fuhr er wieder hinaus und kam immer erst am übernächsten Tag zu ihr zurück, mit denselben Versprechungen im Blick und denselben Worten.

Nie wirst du die sie aufgeben, die See, hatte sie damals zu ihm gesagt, und die Zeit, die sie zwischen den Fahrten gemeinsam verbrachten, wurde zunehmend spröder und stiller.
Ein Monteur, der in jenem lang vergangenen Herbst am Bau der neuen Brücke half, hatte es ihr dann angetan. Er hatte nicht lange gebraucht, sie von den Vorzügen eines guten Einkommens, einer gesicherten Existenz und eines warmen Eigenheimes zu überzeugen. Und das Glück in der Ferne, die Möglichkeit alles hinter sich lassen und noch einmal von ganz vorne beginnen zu können, ließ sie nicht zögern, mit dem anderen Mann zu gehen. Weit weg vom Meer und der Eintönigkeit ihres Lebens … und die Ewigkeit mit ihm zusammen hatte ihr Ende.

  

Der Kapitän blickte die Münzen an, die vor ihm auf dem speckigen Taschentuch lagen und ein schräges Lächeln zog über sein zerfurchtes Gesicht, in das das raue Wetter der See seine unauslöschlichen Spuren gezeichnet hatte. Er war nunmehr mit sich im Reinen. Lange Zeit war seitdem vergangen, und er hatte Hilde längst verziehen. Was konnte sie dafür, dass er es nie zu etwas brachte. Hilde! Wie es ihr nun ging - seiner Hilde? Hatte sie ihr Glück gefunden – ohne ihn? Er hatte seither nie wieder etwas von ihr gehört.

Es half im Leben nichts, Dingen nachzutrauern. Was geschehen war, war geschehen. Vorbei!

  

Der Kapitän seufzte leise. Es half nichts.

Eigentlich war er kein richtiger Kapitän. Die Zeit, die er auf dem Wasser verbrachte, war genau die Strecke, die der Dampfer brauchte, um vom Hafen zur Insel zu gelangen. Seine Aufgabe war es, die Billets der Passagiere zu überprüfen; sein Geschäft, die Monotonie Karten aus fremden Händen zu nehmen, zu kontrollieren und diese dann angerissen wieder in jene Hände zurückzugeben aus denen sie kamen. Immer dasselbe Lächeln auf den Lippen, ein Blick, ein Riss, ein Lächeln.

  

Kapitän war er nur, wenn er den Kindern seine Geschichten erzählte. Von Piraten und gefährlichen Meerengen, von Stürmen und Palmeninseln und von Abenteuern, die sein Leben so interessant machten. Anfangs hatten die Kinder ihm noch geglaubt. Später, wenn er ihr verlegenes Lächeln gewahrte, hielt er meist inne und winkte sie davon. Dann blickte er zum Hafen hinaus, über das blaugraue Meer zum Horizont, wurde ganz still, lauschte dem Wind und ließ seine Gedanken mit einem leisen Seufzen davon segeln.

  

Die großen Schiffe, die weit übers Meer, in fernen Kontinenten, an den exotischsten Häfen anlegten, sah er nur vorüberziehen und Rio oder Caracas blieben immer nur ein Traum.

Doch der Kapitän wurde es nie müde, davon zu schwärmen, zu träumen von den Stürmen des Stillen Ozeans, von den gelben Stränden und wiegenden Palmen der Südsee, von türkisem Wasser und der ewigen Sonne.

  

Unter Mühen schob er seinen Rücken ein paar Zentimeter an der Mauer empor, an der er lehnte. Das rechte Bein gestreckt, das linke etwas angewinkelt, versuchte er, eine angenehmere Position einzunehmen. Die Wärme des Steins kroch durch seine Kleidung, die Haut, bis in die Knochen hinein.
Die Sonne! Mehr brauchte es nicht. Mit wie wenig man doch auskommen konnte, sinnierte er, während ihm ein Sonnenstrahl über die Wange glitt. Die Wärme tat wohl. Wie hatte er sich nach dem Frühjahr gesehnt. Der Winter war nichts für die Straße. Dann zog die Kälte durch Mark und Bein und die Schmerzen wurden unerträglich.

Doch heute war ein schöner Tag, der erste schöne Tag in diesem Frühjahr.

Er blickte hinüber zur Uhr, die an der Backsteinfassade der alten Hafenmeisterei hing. Bald Mittag stellte er fest. Ob Lene heut käme? Auf sie war immer Verlass gewesen. Das gute Kind.

Zufrieden schloss er die Augen. Es tat so wohl, die kleinen Nadelstiche der Sonne auf der Haut zu spüren. Er legte den Kopf weit zurück, streckte den Hals und versuchte seine Gesichtsmuskeln so gut wie möglich zu entspannen.

Obwohl er die Augen geschlossen hielt, fanden die Strahlen der Sonne durch seine geschlossenen Lider ihren Weg, um seine Sinne anzuregen, den Verstand wach zu halten. Er kämpfte gegen diesen Umstand an. Wollte nicht wach sein, nichts wissen. Er atmete tief ein und lange aus und versuchte, alle Wahrnehmungen ziehen zu lassen. Atmete ein, atmete aus.

Und für einen Moment überkam ihn absolute Leere, die Vollkommenheit des Augenblicks. Nichts störte. Es mangelte an nichts. Alles war klar und rein. Kein böses Gefühl, das ihn ängstigen könnte.

Selbst die Geräusche der Strasse konnte er für diese Sekunden ausblenden. Nichts drang in sein Bewusstsein. Nur er selbst, die Sonne und sein Atem, das Rauschen seines Blutes, das Pochen seines Herzens … pures Leben!

  

Langsam kroch es in ihn zurück, das Leben. Das Rauschen des Windes kühlte wieder seine Wangen, das Klacken der Absätze auf dem harten Beton traf wieder auf seine Ohren und ein anderes neues Geräusch weckte seine Aufmerksamkeit. War es das, was ihn in die Welt zurückkehren ließ? Dieses Geräusch? Manchmal leise und dumpf und dann wieder etwas lauter und härter. Aus den Augenwinkeln bemerkte er für ihn ungewöhnliche Bewegungen direkt neben sich. Kleine Steine flogen in und neben seine Mütze, die zwischen seinen Füßen lag. Er blickte sich um, reckte seinen Kopf nach links und nach rechts und dann entdeckte er die Burschen. Drei kleine Rotznasen, die hinter der Mauer versteckt, Steine nach ihm warfen. Eines der Steinchen traf ihn an der Stirn. Schmerz durchzuckte ihn. Seine Hand fuhr unwillkürlich zu der Stelle oberhalb des linken Auges. Er spürte Feuchtigkeit an seinen Fingern. Ungläubig zog er die Hand zurück und blickte staunend auf das Blut, das langsam von seinem Zeigefinger hinuntertropfte.

Er wollte schreien, sich empören – doch die Köpfe verschwanden wie von selbst, und er hörte nur noch verhaltenes Lachen und Kichern, das immer leise wurde.

Mühselig griff er nach dem speckigen Taschentuch - die darauf liegenden Geldmünzen rollten zu Boden - und betupfte damit seine Stirn. Immer wieder hielt er sich das Tuch mit den blutigen Flecken vors Gesicht.

Er starrte vom Tuch auf seine Finger, von seinen Fingern zur Mauer - und schrie nicht.

Die Jungen waren verschwunden.

  

Vorsichtig wischte er etwas Blut von seiner Hand in das Tuch und atmete schnaufend aus. Die Seligkeit des Augenblicks war dahin. Er versuchte sich abzulenken, griff nach den Münzen, die neben der Mütze vor ihm lagen, drehte sie in den schwieligen Fingern hin und her, beobachtete lange die Sonnenstrahlen, die vom Glanz des Kupfers reflektiert wurden und warf schließlich das Geld in die Mütze.

Sein Kopf fiel wieder zurück an die Mauer, die Augen geschlossen. Eine Böe, die vom Hafenbecken kam, zauste sein struppiges Haar. Der Kapitän lächelte. Der Wind. Ewiger Freund, auf dich ist Verlass.  Für einen Moment sah er sich an der Reling stehen, sah die Gischt am Bug aufpeitschen, hörte die anfeuernden Rufe der Seeleute, hörte das Schlagen der Segel und das Knattern der Fahnen, schmeckte das Salz auf seiner Zunge und er segelte wieder hinaus, mit den imaginären Kameraden seiner Träume, hinaus in die Ferne, an entlegene, unbekannte Gefilde, fuhr hinaus ins Abenteuer und er träumte von der Freiheit, von der er glaubte, dass sie ihm die Fremde brachte.

Ein leichter Schlag an sein Bein ließ ihn aus der Träumerei zurückkehren. Er blinzelte gegen das Sonnenlicht und sah in das ernste, wettergegerbte Gesicht eines Mannes, das ihm aus einer lange zurückliegenden Zeit bekannt vorkam.

„Geh zurück“, sagte die Stimme, „lieg hier doch nicht so rum.“

Der Kapitän kannte das Gesicht, kannte die Stimme. Hatte es schon irgendwo einmal gesehen, die Stimme schon irgendwann einmal gehört.

„Du wirst nicht mehr hinausfahren. Vergiss es.“

Der Kapitän kramte in den verstaubten Schubladen seines müden Hirns und fand doch keine Erkenntnis. Was sagte der Mann? Was redete er?

„Geh endlich. Lass dir helfen.“ Der Ton wurde rauer. Wieder ein Tritt. Etwas heftiger.

„Verschwinde endlich.“

Der Kapitän verstand nicht und sein Bein fing erneut an zu schmerzen. Er riss die Augen weit auf, als könnte das helfen, zu verstehen. Doch er verstand nicht.
Das Gesicht verschwand so plötzlich es gekommen war, und die Sonne, die es vorher verdeckte, strahlte ihn wieder an, mit der gleichen Kraft und Schönheit, und er genoss es, und auch der Wind strömte mit einem Male wieder über seine Haut, und es wärmte und kühlte ihn zugleich und er hörte die Möwen schreien und die Hafensirene schrillte und Leute kamen an ihm vorüber und er sah Beine und Menschen, sah Gestalten vorüberziehen - und das Gesicht war vergessen.

  

Der Kapitän verspürte Durst. Wann hatte er zuletzt getrunken? Gegessen? Nur ein Glas Wasser. Etwas anderes trank er schon lange nicht mehr. Nur Wasser. Meistens brachte ihm Lene eine Flasche mit. Wo sie nur blieb. Wie würde er sich freuen, sie heute zu sehen. Ein seltsamer Tag heute, dachte er. Irgendwie fühlte er sich nicht wohl. Das Bein schmerzte so schrecklich. Der Hals war ihm so trocken, dass er schnaufte, und das Blut tropfte immer noch von der Augenbraue.

Die Zeiger der Uhr an der alten Hafenmeisterei wiesen auf eins.

Lene?

Ein Mädchen kam vorübergehüpft, beachtete ihn nicht, sang mit ihrer hellen, klaren Stimme einen Kinderreim, lief an ihm vorbei und sang. Nein, nicht Lene. Nur ein Mädchen das ein Lied sang.

  

Alles still in süßer Ruh,
drum, mein Kind, so schlaf auch du!
Draußen säuselt nur der Wind,
su-su-su, schlaf ein, mein Kind!

  

Nicht weit von ihm, blieb es stehen, drehte sich erst auf dem linken, dann auf dem rechten Bein je einmal um sich selbst und sang dabei ihr kleines Lied.

  

Schließ du deine Äugelein,
lass sie wie zwei Knospen sein!
Morgen, wenn die Sonn' erglüht,
sind sie wie die Blum' erblüht.

  

Das Mädchen hüpfte fröhlich weiter und verschwand hinter der Hafenmauer. Ihre feine Stimme erklang noch eine ganze Zeit lang und wurde leiser, bis sie nicht mehr zu vernehmen war.

  

Und die Blümlein schau ich an,
und die Äuglein küss ich dann,
und der Mutter Herz vergisst,
dass es draußen Frühling ist.

  

Der Kapitän versuchte wieder gleichmäßiger zu atmen, doch es gelang ihm nicht recht. Ein Rasseln entfuhr seinen Lungen. Die vergangenen Tage waren kalt und feucht gewesen. An diese eisige Kälte konnte er sich noch entsinnen. Wie er sie hasste.

Es war lange kalt gewesen, in den letzten Monaten. Er versuchte sich zu erinnern. Gestern? Wo war er gestern gewesen? Er war verwirrt. Die Erinnerung blieb ihm versagt. Er vergaß viel in letzter Zeit. Dinge, die ihm erst kürzlich geschehen waren - wie weggewischt! Und wenn ihm nach langem Grübeln wieder etwas in den Sinn kam, fragte er nach dessen Bedeutung. Dann legte er meist den Kopf in den Nacken und ein eigentümliches Lächeln zuckte um seine Lippen. Was ist schon von Bedeutung?

Auch das Gesicht soeben! Kannte er es wirklich?  Warum hatte der Mann ihn angesprochen? Warum fand sein Hirn keinen Namen zu dieser Person. Verschwinde? Wo sollte er hin? Was hatte die Stimme gesagt? Geh zurück.

Sein Kopf lehnte noch immer an der Mauer, das Atmen fiel ihm schwer und in seinem linken Bein begann es schrecklich zu pochen.
Sonderbar. An Hilde konnte er sich erinnern. An Dinge, die über Jahrzehnte zurücklagen - an das Gesicht des Reeders, als der ihm sagte, dass er ihn nicht mehr fahren lassen könne; zu oft hätte er ihn gewarnt – konnte er sich erinnern.

An die traurigen Augen seiner Vermieterin, als sie kopfschüttelnd die Tür schloss - zum letzten Mal sagte, sie könne nichts mehr für ihn tun -, konnte er sich erinnern. Wie er eine Zeit lang vor deren verschlossenen Türe stehen geblieben war, die ihm so plötzlich wie eine unüberwindliche Barriere den Zugang zu seinem bisherigen Leben versperrte. Einen zweiten Versuch hatte er nicht unternommen, nicht geklopft, nicht geklingelt, nur stumm gestanden für Minuten, die Augen geschlossen, die Brust zugeschnürt … dann war er losgezogen. Damals hatte es mit dem Vergessen angefangen.

Und es ist nicht besser geworden. Nein, nicht besser. Geschlafen, wo immer er Platz gefunden hatte, Kontakt zu anderen gemieden, war einfach von einem Platz zum nächsten gezogen, hatte sich niedergelassen, wenn ihm danach war, hatte gesessen und beobachtet, den Wind gespürt und gelauscht.

Ja, damals hatte das Vergessen begonnen. Denn die Erinnerung an die Tage, die kamen und gingen, verblasste so schnell wie sie versuchte aufzuziehen. Ein jeder wie der vorige, nichts, was sich des Einprägens lohnte.

Nur Kurt war da noch. Immer wenn er an der alten Hafenkneipe vorbeikam, besuchte er seinen guten alten Freund Kurt. Ihn kannte er so viele Jahre. Eine warme Mahlzeit und die ein oder andere Flasche … auf Kurt hat man sich immer verlassen können. Er blieb meist nicht lange in der Kneipe, und wenn Gäste kamen, machte er sich wieder auf, den Geruch von gebratenen Makrelen in der Nase, den Geschmack frischen Bieres auf der Zunge und bezog seinen Posten am Hafen; den Hunger und den Durst geradeso weit gestillt, dass der Körper nicht mehr schmerzte. Und wenn er dann ging, sah Kurt ihm so sonderbar nach und wirkte irgendwie sehr still, beinahe traurig, doch wenn er nur wüsste, wenn er es sich nur vorstellen könnte, wie es war, am Hafen zu sitzen, den Wind zu spüren, dem Klatschen der Wellen am Kai zu lauschen, und nichts anderes störte die Sinne, dann würde er erkennen, dass es keinen Grund gab unglücklich oder traurig zu sein.

  

Aber dann hatte er Lene kennen gelernt und ihr versprochen, nicht mehr zu trinken. Und er hatte es gehalten, sein Versprechen. Schon über Wochen. Auch nach dem fürchterlichen Sturz, die Treppen zur Landungsbrücke hinunter, keinen Tropfen mehr. Grauenhafte Schmerzen hatte er in diesen Tagen gehabt, konnte kaum noch gehen, aber niemand durfte ihm helfen. Und wenn sie ihn vom Hafen weggejagt hatten, weil er einfach liegen geblieben war, so war er zum Park gehumpelt und hatte sich zwischen den Sträuchern hinter der alten Kapelle verkrochen, wie ein alter Wolf, der seine Wunden leckt. Dort blieb er dann eine Zeitlang unter dem Eibenbusche liegen, ging den Leuten aus dem Weg, um irgendwann wieder zum Hafen zurückzukehren.

  

Nur Lene … die hat er an sich herangelassen. Wenn sie nicht gewesen wäre! Sie hatte ihn umsorgt, war so hilfsbereit gewesen, war mit ihm zum Arzt gegangen, den sie gut kannte, der erst ihn und danach sein Bein ansah und immer wieder den Kopf geschüttelt hatte und ihm daraufhin Tabletten gab.

Und wie hatte Lene ihn bekniet mitzukommen und ihm diesen Schlafplatz besorgt, in diesem Haus mit den vielen Menschen, doch da hatte es ihm nicht gefallen und er war von dort so oft weg gegangen, wie man ihn hingeführt hatte. War sodann umhergestreift, mal hier geblieben, mal da, kurz verweilt, nie weit weg vom Meer, vom Hafen, der Stadt, immer am Wasser, im Wind! Doch Lene hatte ihn immer wieder gefunden, die Einzige, die ihn verstand, die mit ihm zum Hafen ans Meer ging, ihm Essen brachte, sich kümmerte. … und wieder zurückbrachte zu diesem Haus, auf ihn einredete, ihn beschwor zu bleiben, - wie gut es für ihn sei, dort zu bleiben.

  

Er ist immer wieder aufgebrochen, so es sein Bein zuließ, zu seinen zahllosen Wanderungen, einfach losgehumpelt, gelaufen wohin die alten kaputten Beine ihn trugen.

Und kam ihm der Weg nicht gut vor, so war er einfach stehen geblieben, hatte die Nase in den Wind gereckt und ist dann geradewegs in die Richtung marschiert, aus der ihm eine sanfte Brise den salzigen Geschmack des Meeres zutrug.

Zum Hafen fand er immer. Seinem Hafen. Dieser Weg war innerstes Programm und der Kai und die Schiffe wie ein Magnet, und so manches Mal dachte er an dieses Buch, das er vor langer Zeit gelesen hatte, das von den alten Menschen Australiens handelte, von den Ureinwohnern, den wahren Bewohnern dieses Kontinents,  die sich plötzlich ohne erkennbaren Grund aufmachten und quer durchs Land zogen, einen Weg, den sie in ihrem Leben nie zuvor gegangen waren, sich ihres Zieles immer so bewusst, zu gehen um anzukommen, wohin ihr Weg sie unweigerlich führte. Traumpfade. Alte Wege aus einer gemeinsamen Zeit. Wege, die die Ahnen schon gegangen waren. Ewige Zeit. Wege abseits von Zeit und Raum. Traumzeit.

Oder an die Vögel, die sich im späten Herbst sammelten, um den weiten Weg über Land und Meer zu machen um irgendwo ein Ziel zu finden, das schon der erste Vogel gefunden hatte.

Und wie ein Wanderer der Gezeiten fand auch er immer wieder seinen Weg zum Hafen, zu den Booten, dem Wasser, der Verheißung des Nordwindes, zu seinem Platz.

Dann saß er genau hier an dieser Mauer und blickte hinaus aufs Meer, vom Meer zum Himmel, blickte den Möwen nach, wie die sich im Kampf um ihre Existenz in die See stürzten, hörte ihr Schreien und saß und sah und hörte.

  

Wie lange war er nun schon hier. Heute. Wie viele Stunden? Tage? Er fühlte sich mit einem Mal so schwach. Nicht, dass ihn das beunruhigt hätte, nur ein wenig verwundert vielleicht, wie gleichgültig ihm dieser Zustand war.

  

Mit den Tagen seiner Wanderschaft fühlte er zunehmend einen weiteren Schmerz, unbestimmt und versteckt, tief in seinem Inneren. Einen Schmerz, der sich nicht orten ließ, der aber existent war, anfangs latent und schwach, dann stärker, manchmal stechend, als wolle er ihn gemahnen, dass da was ist, was jederzeit stärker als er selbst, ihn in seine Schranken weisen konnte.

Und wenn diese existentiellen, wahrhaften Momente sich seiner ermächtigten, wurde sein Leben plötzlich klein und ohne Belang, und er musste staunen, über das, was ihm einst wichtig erschien.

Anfangs zog dann sein Leben in kleinen Ausschnitten an ihm vorüber, schnell und erbarmungslos, und er maß seine Zeit an dem, was in jenen vergangenen Episoden wichtig erschien. Und wenn er es über war, sich der Vergangenheit zu erinnern, ließ er sich fallen, und Gleichgültigkeit überkam ihn. Egal, dachte er sich. Es ist doch so egal.

Dann fielen ihm die Augen zu und das letzte was er spürte, war der Wind, der über sein Gesicht strich. Vergessen …

  

Der Kapitän streckte sich wieder. Die Augen zu schmalen Schlitzen verkniffen, den krummen Rücken an die Mauer gepresst, versuchte er die Erinnerung zu verdrängen. Vergessen, dachte er sich. Heute war der Schmerz, der tief in seiner Brust wie ein Messer stach, besonders heftig. Beinahe heimtückisch, dachte er sich. Er röchelte laut und ein rasselnder Husten folgte.

Wie gerne hätte er Lene heute noch gesehen. Sie war wie ein Anker, sein letzter Halt hier an diesem Ort. Wäre sie nicht, hätte ihn der Wind bestimmt schon mitgenommen. Der Kapitän musste lächeln, bei dem Gedanken, dass der Wind ihn forttragen könne, in eine andere Welt. Dann schloss er die Augen und ergab sich seinem Schmerz.

  

Stimmen erschallten. Menschen kamen, blickten auf ihn hinab. Der Kapitän öffnete für einen Moment die Augen, registrierte alles, wie aus weiter Ferne. Seine Sinne versagten.

Ein Auto hielt. Er hörte es nicht. Stimmen. Lauter vielleicht als sonst. Schriller. Er konnte es nicht unterscheiden.

Jemand sprang aus dem Auto, lief auf ihn zu. Schemenhaft. Der Kapitän sah ein blasses rundes Gesicht über sich, undeutlich; die Augen in diesem Gesicht blieben sonderbar ausdruckslos. Es war ein junger Mann, der sich zu im hinunterbeugte, dann neben ihm kniete und sein Handgelenk ergriff ... nur eine Silhouette.

Der Kapitän blickte an ihm vorbei, sah die Wolken, die mit dem Nordwind zogen, leichte, zarte Gebilde, sah sie langsam vor einem unglaublichen Blau weiterziehen, bis sie vor der Frühlingssonne verglühten.     

Der junge Mann mit dem runden Gesicht blickte von ihm weg, eine zweite Person war plötzlich neben ihm, und der Mann nickte ihr zu. Der Kapitän bemerkte aus den Augenwinkeln, wie eine ebenso junge Frau seinen Jackenärmel nach oben schob. Sie war sehr sanft und bemüht, ihn in seiner bequemen Haltung zu belassen.

Der Kapitän lächelte die Frau an, sie war beinahe so schön, wie die junge Frau mit dem Kind, die er … wann? Er konnte sich nicht mehr entsinnen. Heute? War es gestern gewesen? Wo Lene nur blieb.

Lächelnd, der Kopf fiel ihm dabei sanft auf die Schulter, beobachtete er die junge Frau, die langsam die Spritze aus seinem Arm zog.

Was macht sie da nur …

  

Unendliche Leichtigkeit durchdrang ihn.

Er spürte, wie sein Körper angehoben wurde, getragen, Menschen um ihn, so viele, im Einzelnen nicht zu erkennen, Schemen nur, die erst schnell sich bewegten, dann immer langsamer um ihn herum kreisten.

Mit einem Male öffnete sich der Kreis, und ein Mädchen, nicht älter als zehn, drang durch den Schatten der Menge und näherte sich ihm. Sie trug ein blaues Kleid, so eines wie Lene es immer trug, mit kleinen Stickereien, die Blumen darstellten. Lene!

Das Mädchen sprach mit dem jungen Mann mit dem runden Gesicht, der den Kopf schüttelte und es von ihm fernhielt. Der Kapitän, sah wie die Kleine an der Hand des blassen jungen Mannes zerrte und mit der anderen nach ihm greifen wollte.

Wo bringt ihr ihn hin, hörte der Kapitän leise und wie ein Ertrinkender das Mädchen rufen, während der Wind sacht an der Decke zupfte, die seine Beine umhüllte.

  

Wo bringt ihr ihn hin, fragte das Mädchen? Sie sprach sehr laut, erregt.

Ihre Finger streckten sich nach seiner Hand, wollten sie ergreifen, streiften aber nur seinen Handrücken. Sie ließen sie nicht zu ihm.

Er war bereits so weit weg.

  

Als der kleine Platz vor der Hafenmauer sich leerte, lag da plötzlich eine große Ruhe über dem Ort. Sogar das Schreien der Möwen drang nur in Fetzen aus weiter Ferne herüber. Dann erschallte Kinderlachen. Drei Jungen sprangen behände über die Mauer. Schnell fischten sie das Geld, das in der Mütze lag, heraus und unter Gejohle klimperte es in ihre Hosentaschen.

Kichernd warfen sie nunmehr die blaue Mütze des Kapitäns von einem zum anderen, bis sie vom Wind ergriffen wurde, und die Mütze plötzlich weit hoch segelte. Oben dann, ihren höchsten Punkt erreichend, blieb sie für den Bruchteil einer Sekunde zwischen den staunenden Blicken der Bengel und der flammenden Sonne wie von Geisterhand stehen, wurde alsdann erneut von einer Böe ergriffen und von dieser weit hinausgetragen, über den Kai hinweg und in das Hafenbecken hinein.

  

Für einen Moment sah es so aus, als würde der Wind die alte blaue Mütze noch weiter vom Land hinfort wehen, aufs offene Meer hinaus, doch dann drückte er sie mit einem Male hinab in das schmutzige Wasser des Hafens, wo sie sich schnell vollsog und sodann von den Wellen  zwischen Vogelfedern, toten Fischen und Unrat zurück an die Kaimauer gespülte wurde.

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