Land: Deutschland
Thema: Kurzgeschichten

(von Stefan Fuhrmann)

    

Geronimos Traum 2

  

 „Angefangen hat das ganze Elend 1492“, sagte der Indianer mit ausdrucksloser Stimme.

Ich nippte an meinem Bier. Über die Pendeltüren fiel mit unmittelbarer Brutalität Sonnenlicht in den staubigen Raum, und die Wüstensonne zeichnete ein gleißendes Parallelogramm auf den Dielenboden.

Ich wischte mir mit dem Handrücken über die Stirn. Allein der Gedanke an eine funktionstüchtige Klimaanlage wäre an diesem gottverlassenen Ort purer Luxus gewesen.

Müde beobachtete ich den Wirt, einen großen, kraftstrotzenden Mann, dem ebenfalls Schweißperlen über den fast kahlen Kopf rannen. Lethargisch polierte er mit einem dreckigen Lappen seine Gläser.

Ich überlegte kurz was mir diese abgerissene Gestalt zu meiner Linken verdeutlichen wollte.

„Columbus?“

Dem Indianer huschte der Ansatz eines Lächelns übers Gesicht: „Ja, dieser genuesische Herumtreiber.“

Wieder setzte eine dieser Pausen ein, von der man nicht wusste, ob der Alte überhaupt noch weitersprechen würde.

Ich hatte mich schon daran gewöhnt. Seit meiner Ankunft vor nicht ganz einer Stunde hatte mich die stetig ansteigende Hitze unempfänglich gegen Überraschungen gemacht. Warum in aller Welt hatte ich hier Halt gemacht? Warum hatte ich die Interstate verlassen?

Mein Enthusiasmus und meine romantische Vorstellung vom wilden Westen, vom Campieren am knisternden Lagefeuer, von der unendlichen Weite der Wüste und lockenden blauschimmernden Gebirgen waren schnell derselben augenfälligen Trägheit gewichen, die die Bewohner dieser öden, menschenfeindlichen Landschaft vor allem anderen auszeichnete.

Regungslos, die schwarzen Augen voll kaltem Glanz, saß er da, als wäre er schon immer dort auf diesem Barhocker gesessen, als hätte er auf mich gewartet, um mich über die Verhältnisse in diesem seinem Lande aufzuklären.

„Dieser Trottel!“ Wahrhaftig, nun grinste das alte faltige Gesicht. „Hat doch tatsächlich geglaubt, er hätte Indien entdeckt.“

Sein heiseres hgahga waberte durch das Halbdunkel, in dem wir saßen.

„I n d i a n e r. Hgahga.“ Während er das Wort lustvoll in die Länge zog und mit seinem kehligen Lachen untermalte, verzerrte sich seine dunkle Gesichtshaut in noch tiefere Falten, und ich musste unweigerlich an den Grand Canyon denken; wohl ein Vorgeschmack auf jene bizarre Schlucht, die zu besichtigen ich noch vorhatte.

„Deutschland“, sagte der Indianer und diesmal waren seine ausdruckslosen Augen direkt auf mich gerichtet.

„Ja“, erwiderte ich knapp. Mir war etwas unwohl hier, so allein in diesem Diner, abseits der Hauptroute. Diner? Vielmehr das Klischee eines Saloons, bestimmt 150 Jahre alt; ehemals solide den Stürmen der Wüste und den ihrer rustikalen Bewohner standhaltend, nun wohl mehr von Termiten oder dem Hausbock zerfressen und einen eigentümlichen Geruch von Harz und Rauch und vergangenen Zeiten ausströmend.

Allem was nicht im TUI-Katalog steht, ist wohl doch abzuraten. Das Los des Individualtouristen!

Eigentlich hatte ich ans Meer gewollt. Kalifornien, Long Beach, Hollywood, das bekannte, geschätzte Amerika eben. Endlose Straßen, palmengesäumte Strände, gesegnete Landschaft so weit das Auge reicht, offene kurzweilige Menschen, berühmte Boulevards, mondäne Hotels, Glanz und Gloria, Fülle und Reichtum in Gottes eigenem Land.

Und nun das hier: ein abgehalfterter alter Indianer, von dem ich nicht wusste, ob er betrunken oder geisteskrank war.

Karl May kam mir in den Sinn, Winnetou, Stolz der Prärie; edle Wilde mit stoischer Ruhe ihr Land durchquerend, als Mahnmal einer verlorenen Gerechtigkeit.

Nichts von all dem, der Alte kam mir suspekt vor. Irgendwie gaga.

Deutschland? Er hatte das deutsche Wort verwendet. Ein gebildeter roter Mann, dachte ich mir und unterzog ihn nochmals einer eingehenden Untersuchung.

Mehr graues als schwarzes in der Mitte gescheiteltes Haar, das knapp über die Schultern fiel, hohe Wangenknochen, ein schmallippiger Mund, die kräftige Nase, breit und gekrümmt, raubvogelartig, das ungewöhnlichste aber waren seine schwarzen Augen, die, wenn Licht auf sie fiel, anthrazit wie Steinkohle glänzten. Für mich waren sie unergründlich, sie schienen durch mich hindurchzusehen, als gälte es weit hinter mir etwas ganz anderes zu entdecken. Wer wusste schon was in den Köpfen dieser Animisten vor sich ging?

Ein altes, aber sauberes Baumwollhemd, das unter einem Gürtel bis über die Hüften hing, eine einfache helle Hose und weiche Lederstiefel, die bis an die Knie reichten, rundeten das Bild ab.

„Sie kennen sich gut aus“, sagte ich höflich und deutsch zurückhaltend.

„Habe Zeit. Lese viel.“ Sein Raubvogelkopf nickte kurz und kam meinem Gesicht bedrohlich nahe.

Ich rückte auf meinem Hocker ein wenig zurück. Vielleicht sollte ich noch etwas höflicher sein, etwas mehr Konversation betreiben, um das Eis zu brechen. Also stellte ich mich vor und fragte freundlich nach seinem Namen.

Eine Weile verging.

Der Barkeeper musterte uns unter gesenkten Augenlidern, in stoischer Haltung abwartend, beherrscht von der Ruhe vor dem Sturm, und ich war an Sergio Leones Werke in Cinemascope erinnert. Sein inhaltsleeres Gesicht spiegelte all die sinnlosen Jahre und den endlosen Kampf in diesen gottverlassenen Bergen wider. Es mussten viele Jahre gewesen sein, und die Natur hatte den Kampf gewonnen.

Dann klatschte es laut, als der Mann mit seinem schmutzigen Tuch eine Fliege auf der Theke erschlug.

„Goyathlay“, vernahm ich endlich von dem Indianer auf meine Frage hin. Nach seiner Entgegnung gähnte er herzhaft, und ich konnte dabei eine Reihe makelloser Zähne betrachten. Wohl ein Vorteil natürlicher Ernährung, dem Verzehr viel rohen Fleisches zu verdanken, oder extrem kalziumhaltiger Ziegenmilch, auf jeden Fall nicht so marode wie das Gebiss eines zivilisierten Menschen, das wohl nach siebzig Jahren Abnützung und dem Genuss kiloweiser zuckerhaltiger Leckereien ruinöser aussehen würde.

Ein heiseres Kichern schrillte zu uns herüber. Ich blickte in die Ecke, aus der es kam. Noch so ein Unikat. Rotschwarzkariertes Hemd, straff gespannte Hosenträger, Jeans, die in hohen Stiefeln steckten und die von den Füßen darin gut sichtbar auf einem ramponierten Resopaltisch zur Schau gestellt wurden. Ein breites Grinsen empfing mich, als ich in das lange, hohlwangige Gesicht des Mannes blickte, der immer noch leise girrend sein fahlblondes Haar schüttelte.

„Glaubt, er sei Geronimo.“

Es schien eine Angewohnheit dieser Leute hier im südwestlichen Arizona zu sein, die Sätze nicht korrekt in voller Gänze zu formulieren. Zudem klang die Stimme des Mannes schnoddrig in die Länge gezogen und gelangweilt.

Ich trank einen kräftigen Schluck von meiner Soda und bemerkte, dass der alte Indianer die Augen geschlossen hatte.

Geronimo? Ich hatte den Namen schon einmal gehört …? Gab es nicht sogar einen Film, der so hieß? Jetzt fiel es mir wieder ein: einer der letzten Indianerhäuptlinge, die gegen die eindringenden weißen Siedler Widerstand geleistet hatten, grausam und wild, ein unbarmherziger Kämpfer von Tausenden Soldaten gejagt. Mit diesem Namen war wohl der Traum, der Ureinwohner Nordamerikas, in Würde und Freiheit zu leben, schmählich in einem elenden Reservat gestorben.

Das hier musste ein Scherz sein. Einheimische, die sich über einen tumben Touristen lustig machten.

„Mein Herr“, sagte ich zu dem Mann in der Ecke, „ich bin nur auf der Durchreise, und vielleicht verstehe ich nicht jeden ihrer Späße.“ Ich lächelte mein unverfänglichstes Lächeln.

Der Mann am Tisch streckte sich, in einer Hand ein halbvolles Bier, fiel dann ein wenig nach vorne: „Und ich bin Farmer, lebe seit 45 Jahren in diesen gottverdammten Bergen, und wenn ich sage, dieser gottverdammte Indianer glaubt, er ist der letzte kämpfende Apache, dann ist das wohl so.“ Ich hörte noch ein Yipp und sah, wie der Farmer sein Bier leerte, bevor er wieder in seinen Stuhl sackte.

Extremes Land bringt extreme Charaktere hervor, dachte ich bei mir und beschloss, die nächste Gelegenheit wahrzunehmen, um meinen Weg fortzusetzen.

Ich habe immer gedacht, solche Situationen wären ein Klischee, bekannt aus TV und Kino, Wildwestmythologie eben, - die Realität war weitaus nachdrücklicher. Amerika hat viele Gesichter.

„Gut! Geronimo.“ Ich hob meine Soda und prostete dem Indianer zu.

Ich erschrak. Womöglich hatte ich den Titel vergessen. „Häuptling?!“ Ich hob das Glas noch einmal.

Der Indianer bewegte sich nicht. Sein Oberkörper wog sachte vor und zurück. Er summte eine leise Melodie.

„Nicht.“ Der Farmer meldete sich wieder.

Ich blickte ihm ins gelangweilt grinsende Gesicht.

„Nicht Häuptling. Geronimo war nie Häuptling.“ Heiseres Kichern begleitete seine mangelhaften Ausführungen.

„Nicht?“ Mein Blick wanderte zwischen dem Farmer und dem sich wiegenden Indianer hin und her.

„War nur bekannt für sein Morden. Berühmter Killer eben.“ Er knallte das leere Glas auf den Tisch, was den Wirt veranlasste, sich sein Tuch über die Schulter zu hängen und sich am Zapfhahn zu schaffen zu machen.

Ein eingespieltes Team, dachte ich bei mir, und vermied es wohl, mir meine Animosität für diese Grenzer ansehen zu lassen.

„Verdammte Apachen.“

Der Mann sagte was er dachte.

Das Quietschen der Pendeltüre ließ mich hochschrecken. Eine junge Frau betrat den Schankraum. Ob sie sich wohl ein wenig frisch machen könne, während ihr Mann das Auto auftanke? Der Wirt wies mit dem Kopf zum anderen Ende der Theke, und die Frau eilte sich in bezeichnete Richtung.

Durch eines der Fenster konnte ich an der Tanksäule einen kleinen rundlichen Mann in beigen Shorts beobachten, der sich mit dem Verschluss seines Tankdeckels mühte und dann - endlich – wild entschlossen den Hahn in den Stutzen des Autos versenkte. 

Die Augen Goyathlays waren immer noch geschlossen.

Ich dachte an die Palmen, an den Strand und das Rauschen des Meeres, an einen Tequila Sunrise, der mir kühl die Kehle hinunterrann. Touristenträume. Deswegen war ich nach Amerika gekommen. Was kümmerten mich die Angelegenheiten der Leute hier.

Die Frau betrat wieder den Raum, und beinahe gleichzeitig erschien der Mann, ein kleines Mädchen an der Hand, in der Eingangstür. Die Tür knarrte in ihrer Pendelbewegung, und für einen Moment fächelte ein Lufthauch über meine Stirn.

Ob sie denn was zu Essen bekommen könnten, es sei noch ein weiter Weg und sie schon lange unterwegs. Die Familie nahm an einem Tisch Platz und der Wirt kam mit dem Bier in der Linken und der Speisekarte in der Rechten hinter seiner Theke hervor.

Füllt sich langsam mit Leben hier, dachte ich und blickte durch das Fenster hinüber auf die andere Straßenseite, wo mit großen Lettern an einem Sandsteingebäude etwas hochtrabend ein General Store angepriesen wurde. Ich sah zwei junge Kerle, die im Schatten einer Mauer saßen und immer wieder herüberstarrten. Es kamen wahrscheinlich nicht alle Tage so viele Fremde in diese Gegend.

„NICHTRAUCHER!“ Der Schrei des Wirtes hing wie eine Drohung in der Luft. Die Frau erstarrte in ihrer Bewegung, und ihr Mann zog ihr spontan und beherzt die Zigarette zwischen den Lippen hervor. Das halb zum Mund erhobene Feuerzeug loderte noch für einen Augenblick wie die Fackel der Freiheitsstatue, dann erlosch die Flamme und in einer resignierten Handbewegung verschwand das Tatwerkzeug in einer kleinen weißen Handtasche.

„Verzeihen Sie, wir sind aus New York“, warf der kleine Mann lächelnd seine Entschuldigung gegen die massige, bedrohliche Statur des Wirtes.

„Ist mir gleich. Hier wird jedenfalls nicht geraucht.“ Der Zeigefinger der rechten Hand des Wirtes deutete auf ein Schild, das unmissverständlich auf die neue Ordnung hinwies, die in Amerika Einzug gehalten hatte: DON’T SMOKE.

Aus der Ecke des Farmers kam ein heiseres Gackern. „Glaubt wohl eure Gesetze da oben in New York gelten hier nicht. An keinem verdammten Flughafen kann man mehr rauchen. Verfluchte Städter.“ Er blieb seinem Stil durchaus treu, und ich war insgeheim beruhigt, da er scheinbar nichts Persönliches gegen mich oder den Indianer hatte und seine verbalen Attacken eher allgemeiner Natur waren.

Das nachträglich angehängte ‚Touristen’ klang gelangweilt, verächtlich.

Der Wirt schnaubte noch einmal und mit einem wieder etwas wohlwollenderen Augenrollen, nahm er die Bestellung der den Wilden Westen bereisenden New Yorker auf.

„1492 hat es angefangen. Erst die Spanier. Dann von Norden die Engländer und die Franzosen. Weiß nicht wer für uns Indianer schlimmer war.“

„Hey Geronimo, du warst doch der Schlimmste. Mit deinem Namen hat man doch früher die kleinen Kinder erschreckt.“ Heiseres Lachen und ein Schenkelklopfen. Der Farmer nippte vergnügt an seinem frischen Bier.

Es war, glaube ich, das erste Mal, dass Goyathlay sich schnell bewegte, wie er seinen Oberkörper wie den Leib einer aufgerichteten Schlange in die Ecke des Farmers bog: „Nicht erschreckt. Gegessen habe ich sie und brennend an Wagenräder gebunden. HaHga.“

Am Tisch der New Yorker Familie war nichts als Stille, und ich sah, wie die Kleine mit weit offenem Mund dasaß.

Das war ein bisschen zuviel an skurrilem Humor. Selbst wenn man sich an jenen entlegenen Orten die ein oder andere Verrücktheit zur Normalität zurecht log. Das war zuviel - selbst für Südarizona.

„Nun“, lenkte der Indianer ein, „das Beste an den Spaniern waren die Pferde.“

Er nickte zur Bestätigung. „Noch eine Coke.“ Bedächtig schob er sein leeres Glas mit den Fingerspitzen ein paar Zentimeter von sich weg. „Coca Cola. Das Beste, was uns die Weißen gebracht haben. Angelsächsische Verbrecherbande.“ Er blickte erst den Wirt und dann mich kurz prüfend an.

Ich tat ihm den Gefallen und nickte, um zu zeigen, dass ich seiner Meinung war. Was man so wusste, war sein Zorn auf den weißen Mann durchaus berechtigt - und auch an Coca Cola war tatsächlich nichts auszusetzen.

Der feiste Wirt lugte aus den Augenwinkeln zu uns herüber. Gleich holt er die Schrotflinte unterm Tresen hervor, war ich mir sicher. Beleidigungen waren das Letzte, was sich die zivilisierten Bewohner in diesem öden Winkel Amerikas gefallen ließen - und der Mann war zweifelsohne angelsächsischer Abstammung.

„Wer hat denn alles das alte Europa verlassen, damals! Nur Verbrecher und Ausgestoßene. Hungerleider die nichts mehr zu verlieren hatten. Und dieses elende Gesindel verwandelte sich dank des gesegneten Landes, das sie uns gestohlen haben, in Windeseile in dekadente, blasierte Maden, die alles in sich hineinstopfen und zusammenraffen und nun so tun, als wären sie die Herren der Welt.“

Was der alte Indianer sagte und wie er es sagte, stimmte mich nachdenklich. Wahrscheinlich, weil er recht hatte. Und ich stellte fest, dass er sich vornehmer ausdrücken konnte als die beiden angelsächsischen Verbrecher.

 „Vorsicht Häuptling.“ Der Farmer hatte sein Bier abgesetzt und das Lächeln war verschwunden. „Wir haben dieses Land mit unseren eigenen Händen aufgebaut.“ Er hob demonstrierend seine schwieligen Pranken in die Höhe. „Und meine alte irische Seele soll verdammt sein, wenn mich jemals wer als nicht ehrenwert bezeichnen könnte.“ Offensichtlich hatte er seinen rotzigen Humor verloren. „Es hat Zeiten gegeben, da hättest du hier nicht mehr als einen Tritt bekommen, Rothaut.“

Aus der Musikbox erklang plötzlich ein altes Lied von Hank Williams, irgendwas von weitem Land und ewiger Treue und einer schönen  Frau – und als würde man ein kleines Kind in den Schlaf wiegen, beruhigte sich der Farmer wieder.

„Danke Sam, tut gut die alte Stimme mal wieder zu hören.“ Er trommelte mit den Fingern im Takt des Hillbilly-Gefiedels auf die Tischplatte.

Der Wirt, Sam, nickte demonstrativ in seine Richtung, bevor er in der Küche verschwand. Der Farmer irischer Abstammung nickte anerkennend zurück und trällerte sodann leise vor sich hin. Irgendwie konspirativ die beiden, dachte ich mir.

„Und was haben sie uns gebracht. Krankheiten, die mein Volk dahingerafft haben, Whiskey, der meine Leute verrückt gemacht hat, die Erde hat der weiße Mann geplündert und alles verwüstet zurückgelassen, wenn es nichts mehr zu holen gab.“ Goyathlay redete sich richtig in Rage, und der Farmer wippte ein wenig genervt mit seinen Stiefeln zur Melodie von Hank Williams, der von einem weiten Land und tapferen Reitern sang. Er meinte wohl nicht die Indianer, der gute Hank.

„Hören Sie, mein Herr, ob Sie wohl so nett sein könnten und den Fernseher anstellen würden. Um diese Uhrzeit kommt immer unsere Predigt. Lobet den Herrn.“ Der Familienvater erhob zaghaft seine Stimme, um sein rechtgläubiges Anliegen vorzubringen.

Sam, der gerade wieder erschienen war und auf einer Hand ein dampfendes Tablett balancierte, setzte dieses nachdenklich ab,  kratzte sich erst ein wenig verlegen unter der Schürze seinen fülligen Bauch, schaltete dann aber doch das Fernsehgerät an, das über ihm auf einem Regal zwischen einigen halbleeren Whiskeyflaschen unter einer Staubschicht versteckt stand.

„Kanal sieben, bitte.“ Der Mann aus New York war sich sicher.

Erst zuckte das Bild ein wenig, weißes Rauschen folgte und dann die mächtige, schneidende Stimme des Teleevangelisten: „ …denn unter dem Kreuz ist Platz für einen jeden, so kommet näher, ihr Kinder des Herren und preiset …“

Während Mutter und Vater gebannt den Worten des Heiligen der letzten Tage lauschten, bemerkte ich, wie in die beiden Burschen von der anderen Straßenseite Bewegung kam. Die Baseballmützen tief in die Stirn gezogen, die Hände in den Hosentaschen, schlenderten sie, die sengende Sonne über sich, auf die Tankstelle zu.

„… und sprach: knie nieder, und ich kniete nieder, und dann sprach Gott zu mir, ja es war der allmächtige Gott, der sprach: Bereue …“ Die Stimme hob an, hallte durch den Raum und ich wäre nicht verwundert gewesen, wenn plötzlich ein Engel aus dem alten Gebälk über mir hernieder geschwebt wäre, um uns alle zu erlösen. „Und das Reich des Bösen ist mitten unter uns. Lasst es nicht zu, dass es Besitz von Euch ergreift. Denn wir sind das auserwählte Volk und wir werden das Böse zerschmettern. Amen! Halleluja!“

„Verdammter Protestant!“ Die Entrüstung in der Stimme des Farmers war unüberhörbar. „Der heilige Sankt Patrick hätte nicht mit den Schlangen aufhören sollen.“ Sein Bier war schon wieder leer, und Sam, der gerade das Essen serviert hatte, nahm es auf seinem Weg zurück zur Theke an sich.

„Amen! Lobet den Herren!“

„Nach 1861, das war die schönsten Jahre. Da haben sie sich gegenseitig die Köpfe eingeschlagen. Die blauen Soldaten aus dem Norden und die grauen vom Süden. Vier Jahre lang haben sich die Weißen gegenseitig abgeschlachtet. Hgaha.“  Das gutturale Lachen des Indianers wirkte wie ein Fremdkörper im christlich-choralen Halleluja, das nunmehr aus dem Fernsehgerät erschallte.

„Hat wenigstens den Schwarzen geholfen“, steuerte ich eine weit verbreitete internationale Meinung über den amerikanischen Bürgerkrieg bei.

„HAHg…“, Goyathlays Lachen verstummte genauso schnell, wie es eingesetzt hatte. „Der Schwarze Mann ist ein Verlierer, wie der rote Mann verloren hat. Schwarz und rot: alles Betrogene! Sie haben alles verloren. Wir haben verloren. Das Leben. Die Freiheit.“ Er machte wieder eine seiner Pausen. Seine Nasenflügel bebten, sonst regte sich nichts in seinem Gesicht, das wie aus Stein gehauen wirkte. „Doch der Tag wird kommen, da werden wir auferstehen. Und der weiße Mann wird für seine Taten bestraft werden. Der große Geist wird kommen und es wird furchtbar sein. Mutter Erde wird sich das zurückholen, was man ihr geraubt hat.“

Abrupt warf er den Kopf in den Nacken und fing leise zu singen an. Es war für mich nicht interpretierbar; irgendein heulender Singsang, etwas das Schmerz ausdrückte, Verlust und Sehnsucht, bildete ich mir zumindest ein, gefolgt von blumigen indianischen Versen. „Als ich jung war, und fliegen konnte, als ich auf den wilden und verrückten Flügeln der Jugend durch den Regen flog …“ Der Indianer hob die Arme in Schulterhöhe und drehte den Oberkörper von rechts nach links und wieder zurück, hin und her, immer wieder, während sein Gesicht immer noch zur Decke empor zeigte. „… über mein Land, das einst groß war, hinweg über das weite Gras, über fliehendes Wild, und der große Geist war mit mir …“

Ich wusste nicht, wohin er geflogen war, aber es musste schön dort gewesen sein, denn als er sein Gesicht wieder mir zuwandte, war so etwas wie Erlösung darin zu erkennen. Für den Moment jedenfalls. Er musste in eine weit zurückliegende Zeit gereist sein.

Ich ließ mich vom Fernseher ablenken, wo am unteren Bildschirmrand eine Kontoverbindung eingeblendet wurde, die auch Erlösung versprach, während ein straff gescheitelter blauäugiger flachsblonder Hohepriester im Posaunenton von Jericho von Geben und Vergebung toste.

Dann blendete sich Ton und Bild aus und für einen Moment herrschte selige Ruhe. Die New Yorker atmeten noch einmal tief aus; nur das Kind nicht, es schielte immer wieder auf Goyathlay, wie um sich zu vergewissern, dass von dem alten Mann keine unmittelbare Gefahr mehr ausging.

Sam, der Wirt, verwischte wieder den Schmutz auf seinen Gläsern.

Der Farmer, in seiner Ecke, klammerte sich kuhäugig und Hilfe suchend an sein neues Bierglas.

Goyathlays Flügelschlagen hatte aufgehört, und ich wusste nicht, ob ich verstand, was hier alles vor sich ging. Amerika hat viele Gesichter.

Als sich die Verklärung in den Augen des Ehepaares gelegt hatte, breitete der Mann aus New York seine Arme aus, als hätte er soeben die Heilsbotschaft empfangen und rief unnatürlich laut: „Der Mann hat verstanden. Er ist ein … ein Prophet … ein Visionär … nein, mehr noch: Er ist ein PATRIOT!“ Er schrie beinahe. „Er hat verstanden was Amerika braucht!“

Ich wusste es nicht, und wenn ich ehrlich war, interessierte es mich auch nicht.

Jetzt hatte sie also auch New York erwischt, diese bigotte Frömmigkeit des mittleren Westens. Ich wunderte mich ein wenig, da die Menschen dieser Metropole eher für ihre Affinität zu Geld bekannt waren, und ihr einziger Gott bisher der Index der New York Stock Exchange war.

Ich deutete Sam an, dass ich zahlen wollte.

„Der Teufel soll die Protestanten holen!“ vernahm ich aus der Ecke, wo der Farmer langsam bierselig in sich zusammensank.

Ich stand gerade in dem Moment auf, als draußen vor der Tür die Fensterscheiben des Autos zerbarsten.

Nach einem Moment Stille, starrten alle zum Fenster hinaus.

„Mein Auto“, schrie der New Yorker.

„Verfluchte Bastarde!“ schnaufte Sam, mein Geld in der Hand.

Ich sah, wie die Kerle sich eine Tasche und einen Fotoapparat griffen und dann seelenruhig über die Straße zurückgingen.

Zum Glück nicht mein Auto, dachte ich, die Diskussion und den Papierkram mit der Mietwagenfirma in der Vorstellung.

Die Frau kreischte, das Kind hielt sich die Hände vor die Augen.

„Was’n los“, delirierte der Farmer in seiner Ecke, und als er die zwei jungen Kerle durch das Fenster erblickte, meinte er erleichtert: „Ach, nur die Jungs.“

Sam, hatte inzwischen die Schrotflinte in der Hand und eilte an dem New Yorker vorbei, der ebenfalls den Mut aufgebracht hatte, sich zur Tür und vors Haus zu begeben.

Ich betrat gleich hinter den beiden das Freie. Die Sonne schien mir direkt ins Gesicht, und ich war für einen Augenblick geblendet. Die Wüstensonne brannte unbarmherzig.

Ein, zwei Schüsse krachten, und die Burschen jagten ihre Beute schwingend über die Strasse. Sie johlten, als sie über die Mauer neben dem General Store sprangen. Sam war ein weitaus schlechterer Schütze als man annehmen mochte.

„Meine Kamera“, greinte der Mann. „Unser schönes Auto“, entsetzte sich die Frau, die plötzlich hinter mir erschien.

Dann ein lautes Aufheulen und die Jungen preschten auf ihren Motorrädern an uns vorbei, wie zwei der apokalyptischen Reiter.

Sam war fieberhaft am Nachladen. „Zur Hölle mit euch, ihr Bastarde!“ schnaubte sein schweißglänzendes Gesicht.

Ich stand inmitten der Scherben, roch den Pulverdampf und vernahm das primitive Fluchen des Wirtes. Das Ehepaar stand sprachlos in der Hitze des Mittags. Ihr Urlaub nahm keinen beruhigenden Anfang.

Ich ging langsam zu meinem Wagen. Mein Interesse an einem weiteren Pow-Wow mit irgendwelchen Hinterwäldlern war erloschen. Es war Zeit fürs Meer.

 Ich fischte in meinen Jeans nach dem Autoschlüssel. Ein leises Rascheln ließ mich innehalten.

 „Ich bin Geronimo, der Chiricahua!“, sagte eine Stimme hinter mir. Ich drehte mich vorsichtig um. „Die Erde, die Sonne und alle Winde hören mir zu. Der große Geist hört mir zu.“ Da stand er und hob beide Arme zum Himmel, und seine Augen, schwarz wie Kohlen, nahmen einen eigentümlichen Glanz an. „Ich hatte einen Traum!“

Und als würde der Wüstenwind ihn verstehen, fuhr er sanft durch sein Haar und die glühende Sonne ließ das aufflatternde Haar erstrahlen, als würde es in Flammen stehen.

„Mein Kampf ist noch nicht vorbei. Ich habe es gesehen. Mutter Erde wird sie verschlingen!“

Ich nickte. Dann stieg ich ein. Es waren noch fünfhundert Meilen bis ans Meer.

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